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Heute möchte ich mit dir über die Macht der Erwartungen sprechen.
Neulich saß ich abends um 21:10 Uhr an meinem Notebook und meine Aufgabenliste wirkte wie eine endlose Aufzählung. In mir mischten sich Müdigkeit, ein trockener Hals und dieser dumpfe Druck auf der Brust. Ich hatte viel gegeben, doch etwas fühlte sich nicht gesehen an. Es ist, als hätte der Tag mir ein Versprechen gemacht und es im letzten Moment zurückgezogen.
Ich schaute auf die Uhr und fragte mich, warum sich ein eigentlich produktiver Tag so schwer anfühlt. Ich dachte an Gespräche, die zu kurz waren, an E-Mails ohne Antwort und an die kleine Hoffnung, an diesem Tag einen spürbaren Schritt vorangekommen zu sein. Stattdessen blieb eine leise Leere, die mich zweifeln ließ. Ich bin nicht allein damit. Viele erleben genau diesen Moment – und oft liegt der Schlüssel an einem Ort, den wir selten bewusst betrachten.
Der unsichtbare Regler der Erwartungen
Erwartungen sind wie ein Regler in dir – still und mächtig zugleich. Du drehst ihn selten bewusst, aber er bestimmt, wie du den Tag bewertest. Steht er hart auf Perfektion, muss die Realität glänzen, damit du abends Frieden findest. Steht er weicher, darf das Leben atmen, und auch Ungeplantes fühlt sich tragbar an.
Hinter diesem Regler steckt eine einfache innere Physik: Realität minus Erwartung ergibt Zufriedenheit. Liegt die Realität unter der Erwartung, dann spürst du Druck oder Enttäuschung. Liegt sie darüber, weitet sich etwas in dir, und dein Atem wird leichter. Das Verzwickte ist, dass der Regler im Hintergrund also unbewusst wirkt. Du fühlst nur das Ergebnis und denkst, die Welt sei schuld, während dein Inneres leise flüstert: Sieh mich an und führe mich doch bewusst.
Mara dreht am Regler
Stell dir Mara vor. Zweiundvierzig, klug, zuverlässig, sensibel für Stimmungen, mit einem Herz und einem Intellekt, der gerne gründlich arbeitet. Sie hat eine Präsentation gehalten, an der sie lange gefeilt hat: klare Botschaft, runde Storyline, sorgfältige Beispiele. Als sie endet, sagt der Chef nur: »Solide, danke.« Kein Strahlen, kein echtes Echo, nur ein kurzer Blick auf die Uhr.
Auf dem Heimweg zieht sich ihr Magen zusammen. Und in ihrem Kopf hämmert es: »Es war nicht gut genug.« Zuhause schaltet sie das Licht aus, setzt sich still auf das Sofa und atmet. Sie erlaubt dem Gefühl, da zu sein: Enttäuschung, Müdigkeit, ein Rest Wut. In diesem Raum der Ehrlichkeit stellt sie eine einfache Frage: »Was genau hatte ich erwartet?« Die Antwort ist klar: »Ich wollte, dass er sagt: brillant, genau das brauchen wir.«
Mara erkennt die Enge ihres inneren Drehbuchs. Nicht, weil große Ziele falsch wären, sondern weil ihr Regler auf „perfekt“ stand und kaum Spielraum ließ. Also dreht sie ihn eine Nuance herunter. Sie sagt nicht »Ich mache mich kleiner«, sondern »Ich ehre mein Bestes und lerne aus Feedback.« Am nächsten Morgen bittet sie zwei Kolleginnen um klare Rückmeldungen. Sie bekommt echte Schätze: ein starker Einstieg, zwei Folien zu dicht, ein Beispiel fehlt. Der Knoten in ihr wird weicher, die Arbeit wird wieder nahbarer, und ihr Blick auf sich selbst wird sanfter.
Drei kurze Szenen, die alles erklären
Du hast Hunger und gehst zum Kühlschrank. Unbewusst verknüpfst du diesen Schritt mit der Erwartung, etwas Gutes im Kühlschrank zu finden, sonst würdest du ja nicht hingehen. Ist er dann im schlimmsten Fall leer, bist du enttäuscht. Ist er im besten Fall voll, weitet sich etwas, und du wirst ruhig, denn du kannst schlemmen und genießen. Der Kühlschrank an sich ist neutral, doch dein innerer Regler entscheidet, wie sich der Moment anfühlt, wenn du in den Kühlschrank blickst. Allein das zu wissen, schenkt dir Wahlmöglichkeiten.
Du fährst zur Arbeit und rechnest mit einer pünktlichen Bahn. Doch es kommt anders: Verspätung, Gedränge, eine verpasste Nachricht – der Tag kippt scheinbar schon am Morgen. Mit einem weicheren inneren Regler sagst du dir: »Ich kalkuliere Unwägbarkeiten ein und schenke mir zehn Minuten Puffer.« Es wird dadurch nicht perfekt, aber tragfähig, und du behältst dein inneres Ausgeglichensein.
Du schickst eine Nachricht mit Herzblut und hoffst auf ein warmes Echo. Doch es bleibt still – keine Antwort, und dein Bauch zieht sich zusammen. Ein neuer Regler-Satz hilft hier: »Menschen antworten in ihrem Tempo. Ich kommuniziere klar, was ich brauche, und halte die Verbindung zu mir.« Die Stille verliert dann ihre Macht, und dein Tag wird heller.
Gefühle anerkennen – Stärke sammeln
Der erste echte Schritt ist erstaunlich schlicht: Fühlen. Nicht übertönen, nicht analysieren, nicht schnell „wegatmen“. Fühlen heißt, die Botschaft deines Inneren wahrzunehmen, ohne dich darin zu verlieren. »Ich bin enttäuscht.« »Ich bin wütend.« »Ich bin erschöpft.« Diese ausgesprochenen Sätze wirken wie eine ruhige Hand auf deiner Schulter. Sie würdigen, dass du ein Mensch bist, der spürt, weil ihm etwas wichtig ist.
Wenn du dir erlaubst zu fühlen, hörst du, was das Gefühl sagen will:
- Enttäuschung zeigt dir den Abstand zwischen deinem inneren Bild und der gelebten Szene.
- Wut weist auf eine berührte Grenze hin, die es zu klären gilt.
- Erschöpfung signalisiert, dass du zu lange gegen dich gearbeitet hast.
Gefühle sind keine Gegner, sondern Hinweisschilder. Sie führen dich zurück zu deinem inneren Regler, den nur DU bewegen kannst.
Dies anzuerkennen verwandelt inneren Widerstand in Klarheit. Solange du gegen dein Empfinden kämpfst, verteidigst du unbewusst die Erwartung, die es ausgelöst hat. Mit dem leisen »Ja« zu deinem Zustand öffnet sich ein freundlicher Raum. In diesem Raum kannst du sehen, was du wirklich erwartet hast – und wie eng es vielleicht vorher war.
Der richtige Anfang schenkt Vertrauen
Gerade am Anfang ist es vorteilhaft, mit Situationen zu beginnen, die starke Gefühle der Unzufriedenheit oder Enttäuschung auslösen. Das macht eindeutiges und klares Erkennen leichter. Ohne diesen Anfangsimpuls, verspürst du sonst keine Motivation, etwas an deinen Gefühlen zu ändern. Denke also nicht, du müsstest dieses „lästige“ Gefühl der Unzufriedenheit ignorieren. Unterliege nicht dem Glaubenssatz, dass starke Menschen ihre Gefühle ignorieren, um zufrieden zu sein. Man kann sich nicht stark denken, sondern nur stark fühlen.
Stärke bedeutet, jedes Gefühl zu akzeptieren und es als das wahrzunehmen, was es in diesem Augenblick ausdrücken will. Gefühle sind pure Energie, die immer in jedem Augenblick eine Botschaft für uns haben. Ohnehin gibt es keinen Augenblick im Leben eines Menschen, der ohne Gefühl ist. Es bleibt lediglich die Frage, welches Gefühl und wie viel davon nimmst du gerade wahr. Gefühle sind DIE einzigen Katalysatoren für unser Handeln – nicht die Gedanken. Doch dazu mehr in einem anderen Newsletter.
Der Tauchgang – Ursache erkennen, Regler justieren
Nach dem Fühlen und Anerkennen folgt im zweiten Schritt der Tauchgang. Frag dich ruhig und konkret: »Welches Ergebnis habe ich erwartet? Wie sah mein inneres Drehbuch im Detail aus?« Schreib zwei, drei Sätze auf und sprich sie laut. Du erkennst darin bestimmt deine alten Formeln: »Alle müssen begeistert sein.« »Heute darf nichts schiefgehen.« »Ich brauche sofortige Anerkennung.« Diese Sätze wollen eigentlich nur deinen Selbstwert schützen, doch sie sind zu schmal für das echte, bewegliche Leben.
Jetzt justierst du bewusst. Du ersetzt Forderungen durch Ausrichtungen, die Kraft geben, ohne dich festzunageln:
- Aus »Alle müssen begeistert sein« wird »Ich erzähle klar, warum es wichtig ist, und ich lerne aus jeder Reaktion.«
- Aus »Nichts darf schiefgehen« wird »Ich plane sorgfältig und bleibe dennoch beweglich, wenn das Leben es anders will.«
- Aus »Ich brauche Anerkennung« wird »Ich würdige mein Bestes und hole mir konkretes Feedback, wenn ich wachsen will.«
Als dein innerer Regler sich leise dreht, entspannt etwas in dir. Mit der Entspannung kehrt Handlungsfähigkeit zurück. Du kannst die Justierung zur täglichen Mini-Praxis machen: Drei Minuten abends reichen. »Wo war ich unzufrieden? Welche Erwartung stand dahinter? Wie stelle ich meinen Regler morgen ein?« Schreib dir zusätzlich ein Satzmantra für den nächsten Tag – kurz und freundlich. Zum Beispiel: »Ich gebe mein Bestes und atme im Ungeplanten.« »Ich höre zu, bevor ich urteile.« »Ich feiere den nächsten kleinen, echten Schritt.« Aus Übung wird Haltung, aus Haltung wird ein neuer Grundton deines Alltags.
Fazit
Zufriedenheit ist selten Zufall, sondern eine leise Entscheidung, die du immer wieder erneuerst. Du musst nicht kleiner träumen, und du sollst dich nicht verbergen. Du darfst ambitioniert bleiben und gleichzeitig milde mit dir sein. Wenn du den unsichtbaren Regler deiner Erwartungen erkennst und bewusst führst, entsteht Raum, in dem du dich selbst wieder spürst.
Wenn du abends den Tag beschließt, dann lege deine Hand innerlich an diesen Regler. Atme, fühle und frag dich ehrlich: »Was habe ich heute erwartet, und wonach richte ich mich jetzt aus?« Dreh ihn um eine Nuance, nicht um Welten. Spüre, wie Gespräche menschlicher werden, wie Arbeit nahbarer wird und wie Pausen dich wieder nähren.
Dasselbe Leben fühlt sich anders an, wenn dein innerer Maßstab atmet. Vielleicht hörst du dann dieses leise, verlässliche »Ja« in dir. Nicht, weil der Tag spektakulär war, sondern weil du bewusst geführt hast, was wirklich dir gehört: deinen Regler, deine Haltung und deinen liebevollen Blick auf dich selbst.