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Der Maskenflüsterer
Der Wecker schnurrt um 5 : 45 Uhr. Er klingt wie eine gelangweilte Katze, die trotzdem fordert, dass du sofort aufstehst. Mit halb geschlossenen Lidern sitze ich auf dem Bettrand. Das Smartphone blinkt gierig. Drei neue Meeting-Einladungen warten. Es ruft mir zu: „Auf geht’s, Hochstapler. Die Welt wartet nicht!“ Noch bevor die Kaffeemaschine ihr Fauchen beginnt, piekst der altbekannte Gedanke in meinen Kopf: „Heute merkt jemand, dass ich nur eine glänzend polierte Attrappe bin.“
Ich schlüpfe in den dunkelblauen Anzug. Er riecht nach Endgegner in Level 42. Die Präsentationsfolien zähle ich ein drittes und viertes Mal durch. Jede Zahl wird gründlich geprüft. Unter der Dusche öle ich die Stimme. Danach pumpe ich das Zwerchfell auf wie ein bockiges Luftkissen. Ich spule meine Rituale ab, wie ein Schauspieler kurz vor der Premiere. Im Kopfkino blinkt das Schild: Vorstandspräsentation – Eintritt nur für Genies.
Im Zug erhellen rot leuchtende E-Mail-Betreffzeilen meine Pupillen. Jede fühlt sich wie ein Laserpointer auf meinem Rücken an. Schweiß sammelt sich in den Handflächen. Am Bahnhof spiegelt mir ein Schaufenster meine Figur entgegen, die souverän wirkt. Doch ich kenne das Trommelsolo unter dem Hemd. Das ist der Maskenflüsterer. Er ist die innere Dramaqueen, die mein Selbstwertkonto ständig überzieht.
Der Konferenzraum liegt unter Neonlicht. Der Beamer verströmt Wärme. Stille spannt sich wie ein Draht. Ich rede, antworte, überzeuge. Das Publikum nickt artig. In meinem Kopf sitzt eine unsichtbare Jury. Sie verteilt Minuspunkte für imaginäre Patzer.
Falls du dieses Zittern kennst, sei beruhigt. Es beweist nicht deine Unfähigkeit. Es ist nur das Alarmsystem eines Nervensystems, das zu lange allein gegen zu viel Druck kämpft.
Die leise Erschöpfung – warum sie uns ab Vierzig so heftig erwischt
Von außen stapeln sich die Erfolge: Bonus. Beförderung. Branchenauszeichnung. Innen zieht bleierne Müdigkeit die Vorhänge zu. Die Forschung nennt es das Midlife-Paradox: Äußerer Triumph steht neben innerem Vakuum.
- Aufführung seit Jahrzehnten:
Wir erfüllen Zielvorgaben. Wir hüten Budgets. Wir rennen Meeting-Marathons. Je länger die Karriere dauert, desto dichter wird die Maske. Rolle und Identität verschmelzen wie Schokolade auf dem Autorücksitz in der Sommerhitze. - Sinn-Sirene und Werte-Vakuum:
Mit Mitte Vierzig heult plötzlich die Sinn-Sirene. „Wofür renne ich eigentlich?“ Alte Ziele schmecken fade. Neue sind noch unscharf. - Vergleichsvirus:
LinkedIn glänzt. Konferenzen blitzen. Immer springt jemand jünger, smarter, agiler durchs Bild. Der innere Zähler blinkt: „Du bist zu spät. Du machst zu wenig.“ - Hyper-Empathie und Perfektionismus:
Du spürst jede Stimmung im Raum. Du willst niemanden enttäuschen. Gleichzeitig flüstert der Glaubenssatz: „Ein Fehler kostet alles.“ Das Impostor-Feuer lodert höher und höher. - Lebensreife erfährt Konflikt:
Du suchst Authentizität. Doch die Strukturen verlangen Schnellschüsse und Quartalskunststücke. Dieser Dauerkonflikt zieht sich zäh wie Kaugummi.
Ich erinnere mich an Fahrstuhlfahrten. Vor dem Spiegel klebte ich mir ein Lächeln auf. Es hielt bis zur Kantine. Dort brauchte ich den nächsten Espresso, um die Maske nachzukleben.
Der Wendepunkt auf dem Parkplatz
Mittwoch, 22 Uhr. Die Flure sind leer. Das Büro liegt im Dunkeln. Ich sitze im Auto, die Stirn auf dem Lenkrad. Die Wischerblätter zucken im Regen. Und der Maskenflüsterer brüllt: „Jetzt haben sie es gemerkt. Die Quartalszahlen waren nur Glück!“
Das Handy vibriert. Kollegin Anna fragt: „Bist du noch im Büro?“ – „Nicht mehr“, murmele ich. „Ich stehe auf dem Parkplatz. Ich glaube, ich bin ein Hochstapler.“ … Stille … Dann lacht sie warm, ein wenig brüchig. „Willkommen im Club. Ich dachte, du hättest alles im Griff.“
Wir reden fünfzehn Minuten. Anna gesteht, dass sie montags Bauchkrämpfe vor ihrem Teammeeting bekommt. Dieses ehrliche Geständnis reißt einen feinen Riss in mein Panzerglas. Scham verliert ihre Magnetkraft, sobald Licht hindurchscheint. Auf der Heimfahrt dreht der innere Kritiker die Lautstärke herunter. Ich begreife: Wenn Profis wie Anna zweifeln, liegt das Problem nicht in mir. Es liegt in der heimlichen Regel: Zeig niemals Schwäche.
Die Reise zurück zu mir
Ich starte ein Experiment. Die Maske soll Schicht für Schicht abfallen. Kein brachiales Herunterreißen. Drei Etappen helfen mir. Du kannst sie für dich anpassen:
1. Entlarven – Licht an
- Gedanken-Logbuch: Jeder abwertende Satz kommt aufs Papier. Beispiel: „Sie werden merken, dass ich Statistik nur kopiert habe.“
- Evidenz-Spalte: Daneben notiere ich Fakten: Abschlussnote Statistik-Kurs, Projektbericht, Dank-Mail eines Kunden.
- Spiegel-Gespräch: Einmal täglich lese ich beide Spalten laut. Das Gehirn lernt, Zweifel mit Realität zu konfrontieren.
2. Neu bewerten – Regeln wechseln
- Ich ersetze Pauschalsätze: („Nur Glück gehabt“) durch Prozess-Sätze („Ich habe mich vorbereitet, Erfahrung genutzt“).
- Lob nehme ich in drei Schritten an: Erst „Danke.“ Dann Stille und atmen. Zum Schluss sage ich: „Freut mich, dass es hilft.“. Die Stille dazwischen ist Training für mein Nervensystem.
- Fehler werden Lernfelder: Ich frage nach jeder Panne, „Was nimmt das Team daraus mit?“, statt mich still zu geißeln.
3. Integrieren – Echt auftreten
- Freitags-Realitäts-Check: Blockiere jeden Freitag fünf Minuten. Liste drei Fakten, die beweisen, dass du lieferst: Projekt abgeschlossen, Lob erhalten, Konflikt geklärt. Sammle Screenshots oder Post-its in einem „Beweis-Ordner“. Bei Zweifel: Ordner öffnen.
- Mikro-Verbündete: Vereinbare mit zwei Kolleginnen oder Kollegen einen „Ehrlich-mittags-Talk“. Jede Person teilt kurz einen Erfolgs- und einen Zweifel-Moment. So normalisierst du Unsicherheit und übst mutiges Teilen.
- Mini-Mut-Aktionen: Im Meeting stelle ich eine unfertige Idee vor. Der Boden bricht nicht weg – im Gegenteil, das Team baut drauf auf.
Nach sechs Wochen bemerke ich, dass mein Stimmeinsatz freier wird und meine Schultern entspannter sind.
Die neue Bühne
Drei Monate später folgt die nächste Vorstandspräsentation. Der Anzug ist derselbe. Diesmal trägt er mich. Der Maskenflüsterer nuschelt, doch seine Worte klingen dumpf. Sie ertönten wie hinter einer Glasscheibe.
Zu Beginn erzähle ich eine kurze Geschichte: Unser Team entdeckte einen Fehler. Wir legten ihn offen und lösten ihn binnen 48 Stunden. Die Vorstände lehnen sich vor. Sie wirken interessiert und gespannt.
Nach dem Meeting klopft mir ein junger Kollege auf die Schulter. „Ihre Ehrlichkeit war erfrischend. Ich dachte, ich müsste perfekt sein.“ Seine Worte fühlen sich an wie Sonnenlicht in einem Keller. Echtheit breitet sich aus.
Am Abend sitze ich auf dem Balkon. Die Stadt glitzert. Mein Blick ruht auf dem stillen Himmel. Vielleicht stehst du jetzt in einem Hotelzimmer und morgen wartet deine Präsentation. Der Maskenflüsterer quengelt. Vertrau mir: Ein ehrlicher Satz. Ein tiefer Atemzug. Ein Prozent Mut. Das reicht, um den Bann zu brechen.
Reflexionsfragen für dich
- Welcher Moment heute hat dich heimlich stolz gemacht?
- Welche drei Sätze deines Maskenflüsterers hörst du am häufigsten?
- Was wäre morgen anders, wenn du schon jetzt wüsstest, dass du gut genug bist?
Bonus: 3 Soforthilfen für jeden Tag
Hier kommen handfeste 5-Minuten-Tools, die du sofort in deinen Alltag einbaust – ohne weiteres Programm, ohne Extra-Budget.
1. Neurobiologie in Miniformat
Stress aktiviert dein limbisches System. Eine schnelle Übung, um die Impostor-Alarmanlage zu dämpfen: Schaue dich im Raum um und finde fünf Dinge in einer bestimmten Farbe. Das lenkt den präfrontalen Kortex ein, der rational beurteilen kann: Gefahr oder Phantom? Nach 30 Sekunden sinkt der Puls messbar.
2. Die 2-Minuten-Mut-Mail
Schreibe einer Person, die deine Arbeit positiv beeinflusst hat, ein kurzes Dank-Mail. Effekt: Du verlagerst den Fokus von Selbstkritik auf Wertschätzung. Gleichzeitig stärkst du Netzwerke – eine Ressource gegen Impostor-Gefühle.
3. Schlaf & Selbstwert
Sensible Menschen geraten leicht in Grübel-Spiralen. Ersetze den letzten Bildschirm-Blick durch eine 5-x-5-x-5-Atmung: 5 Sekunden ein, 5 halten, 5 aus. Zwei Minuten reichen für ein spürbar ruhigeres Nervensystem. Besserer Schlaf senkt den Cortisol-Level und mindert am Morgen das Impostor-Grundrauschen.
Setze dir eine Kalender-Erinnerung, teste jede Übung eine Woche lang und behalte jene, die sofort Resonanz erzeugen. Klein beginnen, Wirkung kumulieren – das ist die Mathematik der Gelassenheit.
Sei sensibel, sinnreich, souverän
Liebe Grüße, Jens