Lesezeit: 8 min
Wenn scheinbar alles brennt … und das Herz dennoch roh bleibt
Donnerstag, 6 : 58 Uhr. Ich schleiche barfuß zur Espressomaschine und freue mich auf das vertraute, beruhigende Röcheln, das meinen Tag einläutet. Genau in dem Moment ploppt auf dem Display ein Betreff auf, der scheinbar sämtliche Großbuchstaben des Alphabets verschlingt: „DRINGEND – ABGABETERMIN HEUTE!“
Noch bevor der erste Tropfen Kaffee meine Tasse berührt, rast mein Puls wie ein aufgescheuchter Schwarm Vögel. Mit einem einzigen Blick auf das Handy aktiviert sich im Kopf eine akustische Großübung: „Wenn ich jetzt nicht antworte, stürzt das Projekt, kippt meine Karriere, vielleicht sogar der Kontinent!“
Ich hetze zum Notebook, doch auf halbem Weg stolpere ich über den Rucksack meines Kindes und werde an den Elternabend erinnert, der für den Abend geplant ist. Plötzlich haben Deadline-Panik und Familienverantwortung eine WG-Party in meinem Nacken. Das nervöse Durcheinander schnürt mir die Atmung ab. Dieser Zustand ist leider das gut eingeübte Grundrauschen vieler Menschen, die nach außen souverän und innen oft schon beim zweiten Cappuccino erschöpft sind.
Wieso schreit inzwischen jede Nachricht „Feuer!“?
Wir, die schon ein paar Jahrzehnte Karriere auf dem Tacho haben und gleichzeitig nach echtem Sinn und innerer Ruhe suchen, sind für Alarm-Kapitalisten ein gefundenes Fressen. Jahrzehntelang verknüpften wir Erfolg mit sofortiger Reaktion, und so haben sich drei Mechanismen in unser Nervensystem eingebrannt:
- Das klassische Bonus-System belohnt Geschwindigkeit statt Strategie, weshalb unser Karriere-Reflex immer noch auf „Sofort!“ springt, selbst wenn es gar keinen echten Brand gibt.
- Das Wörtchen „dringend“ vermittelt dem Absender ein Gefühl von Bedeutung und uns Empfängern das Bedürfnis, eben jene Bedeutung artig zu bestätigen.
- Ständige Aktionismus-Hektik übertönt die leise Unsicherheit, ob das, was wir da eigentlich tun, überhaupt noch zu unseren Werten passt – und weil Unklarheit unangenehm ist, greifen wir lieber zu hektischer Aktivität als zur ehrlichen Reflexion.
Freitag, 18 : 27 Uhr. Noch schnell etwas zum Abendessen besorgen. Ich stehe im Supermarkt, mitten im Gang „Pasta und Hülsenfrüchte“ und greife nach der Bio-Linguine, als mein Handy piept – „Eilt, bitte Folie ändern!“. Meine linke Hand verharrt in der Greifpose nach den Nudeln, während ich ungläubig mein Handy mit der rechten Hand im Würgegriff halte. Eine ältere Dame neben mir blickt mich irritiert an, weil ich offenbar weine und lache zugleich. Gleichzeitig rauscht in meinem Kopf eine zweite Tonspur mit der Frage: „Wofür mache ich das Ganze noch einmal?“
Diese Schwindel-Sekunde entlarvt das Kernproblem vieler Menschen: Das Bedürfnis nach Echtheit prallt ungebremst auf die Erwartung ständiger Verfügbarkeit – und weil die Erwartung lauter brüllt, verliert die Echtheit zu oft diesen Wettkampf.
Stell dir vor, dein Tag hätte wieder ehrliches Hausrecht
Mal dir einen anderen Morgen aus. Derselbe Donnerstag, 7 : 12 Uhr: Das Handy liegt noch immer dort, wo der Flugmodus es sanft in den Schlaf gewiegt hat, und ich erlaube mir erst einen ruhigen Atemzug, dann einen zweiten, bevor ich überhaupt an E-Mails denke. Mein Puls schlendert, statt zu sprinten, und die Espresso-Crema glitzert wie frisch polierte Gelassenheit.
Statt reflexhaft in den Posteingang zu stürzen, öffne ich ein leeres Dokument für das Herzensprojekt, das seit Monaten wie ein staubiges Buch im Regal wartet. Nach zwei ungestörten Flow-Stunden flackert eine wohltuende Gewissheit auf: „So fühlt sich echtes Schaffen an.“ Währenddessen ist das Handy stumm geblieben, niemand ist in Flammen aufgegangen, und mein innerer Sinnkompass, der lange im Funkloch dümpelte, zeigt wieder eindeutig nach Norden.
Am Abend, beim gemeinsamen Abendbrot, lasse ich das Notebook geschlossen und höre meinem Teenager tatsächlich zu. Kein heimlicher Blick aufs Display, keine heulende Sirene im Hinterkopf – nur das ungefilterte Gespräch über Mathe, Musik und das Mysterium des Erwachsenwerdens. Mein Nervensystem fühlt sich an wie ein Faultier im Schatten, das gemächlich an einem Blatt Salat knabbert, und mir wird klar: Gelassenheit ist kein Luxus, sondern eine höchst rentable Lebensinvestition.
Kurz gesagt: Sobald wir konsequent zwischen echt wichtig und nur laut dringlich unterscheiden, tauschen wir Erschöpfung gegen Energie, Sinnleere gegen authentischen Beitrag und oberflächliche Kontakte gegen echte Verbindung.
So bekommt die Stimme, die wir am längsten ignoriert haben – unsere eigene – endlich das Megafon in die Hand, und wir erfüllen damit ein zentrales Bedürfnis: Ein Leben zu führen, das innen so stimmig klingt, wie es außen aussieht.
Drei sofort machbare Alltagshilfen
Merksatz: „Dringend ist, was brennt – wichtig ist, was wärmt.“
Prioritäten-Tetris 2.0
Male morgens drei Kästchen:
- „Wichtig & dringend“
- „Wichtig & nicht dringend“
- „Alles andere“
Fünf Steine pro Tag, mehr passt nicht. Kommt ein sechster, muss einer raus – wie beim echten Tetris endet Überfüllung im Game-Over.
Inbox-Detox
Checke E-Mails um 10 , 14 und 17 Uhr. Stelle in den Zwischenzeiten Benachrichtigungen aus. Du trainierst gleichzeitig dich und dein Umfeld auf realistische Antwortfenster.
Notfall-oder-Nichtfall-Check
Ruf den Absender kurz an und frage: „Was passiert, wenn du es erst morgen um 9 Uhr bekommst?“ In 8 von 10 Fällen zuckt die andere Seite mit den Schultern und ist entspannt – Alarm gelöscht.
Vertiefung - Die Kehrtwende von Tom
Tom, 52, Projektmanager, zwei Teenager. Jeden Abend kam er atemlos nach Hause, rutschte direkt in den nächsten Familien-Sprint: Hausaufgaben abfragen, Abendessen, E-Mails checken.
Wendepunkt: Herzstolpern beim Joggen. Arzt sagt: „Stress runter – sonst fährt der Körper dich runter.“ Tom malt das Prioritäten-Tetris, stellt sein Handy in den Schlafmodus ab 20 Uhr und ruft am nächsten Tag fünf Kunden persönlich an, statt 30 E-Mails zu ballern.
Ergebnis: Keiner vermisste die nächtlichen Antworten, zwei lobten sogar die Klarheit. Tom spürt zum ersten Mal seit Jahren, wie sich Feierabend anfühlt. Seine Tochter sagt: „Du schaust wieder richtig zu, Papa.“
Was Tom lernte, kannst du sofort testen:
- Klarheit kommuniziert Wertschätzung.
- Echt dringende Dinge passen auf einen Bierdeckel.
- Eigenes Tempo = eigens gestaltetes Leben.
Reflexionsfragen zum Mitnehmen
- Welche Alarm-Wörter triggern dich sofort? (z. B. „Deadline“, „kurz“, „urgent“)
- Welche Langzeitwerte sind dir wichtiger als kurzfristige Anerkennung?
- Wann hast du das letzte Mal eine Bitte vertagt – und die Welt ist NICHT untergegangen?
Nimm dir 5 Minuten, schreibe die Antworten handschriftlich. Das macht sie realer als jedes digitale Dokument.
Schlussgedanke
Dringend ist oft nur ein lauter Nachbar, der durch dünne Wände schreit. Du darfst entscheiden, ob du rübergehst oder erst gelassen frühstückst. Die Eingangsfrage dieses Newsletters „Dringend? Für wen?“ öffnet dir den Raum, das flackernde Blaulicht runterzudrehen – und deinen eigenen Rhythmus lauter.
Ich stehe wieder an der Espressomaschine. Das Display blinkt „Nicht genug Wasser“ – das Einzige, das heute früh „dringend“ ist. Ich gieße nach, lächle und atme. Irgendwo brennt garantiert ein Posteingang – aber mein Kalender rief ja schon Feuer, und ich löschte mit Kaffee.
Wenn morgen erneut rote Ausrufezeichen auftauchen, frage dich zuerst: „Dringend? Für wen?“ Vielleicht reicht ein Schluck Humor, um echte Brände von bunten Leuchtstäbchen zu unterscheiden. Und wenn du heute nur eine Sache mitnimmst, dann diese: Das lauteste Signal verdient nicht automatisch deine wertvolle Lebenszeit.