Perfektionismus: Wenn 95 % nicht gut genug erscheint

Lesezeit: 6 min

Der stille Druck hinter der glänzenden Fassade

Vielleicht kennst du diese Szene: Du sitzt spätabends im Büro. Die Präsentation ist längst fertig – aber irgendetwas zieht dich weiter. Eine Folie könnte schöner sein. Die Formulierungen noch präziser. Die Übergänge eleganter.

Obwohl du genau weißt, dass dein Ergebnis nicht nur solide, sondern sehr gut ist, kannst du nicht abschalten. Im Gegenteil: Ein unruhiges Gefühl macht sich breit – fast so, als drohte Ungemach, wenn du nicht noch ein bisschen mehr tust.

Dieses Gefühl kennt fast jeder Mensch in der Midlife-Phase, der als Fach- oder Führungskraft Verantwortung trägt und sensibel, selbstkritisch und ambitioniert ist. Viele Menschen geraten hier schnell in ein Muster:

  • Sie wollen nicht nur gut sein – sondern außergewöhnlich.
  • Sie wollen alles richtig machen – und das in jedem Detail.
  • Sie legen die Messlatte oft unbewusst übermenschlich hoch.

Perfektionismus fühlt sich dabei oft weniger wie Stolz auf Qualität an – sondern wie ein nie endender innerer Druck. Und genau das ist das Problem: Perfektionismus wird zum Maßstab, an dem wir uns immer zu klein fühlen.

In der Lebensphase ab 40 kommt noch etwas dazu: Die Fragen „Wofür mache ich das eigentlich?“ und „Für wen rackere ich mich hier ab?“ werden lauter. Viele bemerken, dass sie sich jahrelang an Erwartungen ausgerichtet haben – von Chefs, Kunden, Kolleginnen und Kollegen oder der Familie – und dass Perfektionismus längst zur inneren Stimme geworden ist, auch wenn außen niemand mehr Druck macht.

Der Preis, den du zahlst – ohne es zu merken

Lass uns ehrlich hinschauen: Perfektionismus ist kein harmloser Ehrgeiz. Er ist ein gnadenloser Antreiber, der gerade sensible, reflektierte Menschen still zermürbt.

Drei Einschränkungen, die Perfektionismus in der Midlife-Phase mit sich bringt:

  • Emotionale Erschöpfung:
    Wer immer besser sein will, gönnt sich selten Momente der Zufriedenheit. Statt Stolz dominiert Selbstkritik. Dieses permanente „Nicht-genug-Gefühl“ erschöpft innerlich – oft ohne dass es Außenstehende bemerken. Besonders Menschen mit ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein merken irgendwann: Ich habe keine Freude mehr an dem, was ich tue.
  • Blockierte Kreativität:
    Statt Neues mutig auszuprobieren, feilt man endlos an Details. Perfektionismus will Fehler vermeiden – doch gerade aus mutigen Fehlern entsteht Entwicklung. Viele blockieren sich selbst: „Bevor es nicht 100 % perfekt ist, darf es nicht raus.“ So bleiben Ideen ungelebt und Projekte unerledigt.
  • Verlust von Freiheit:
    Perfektionismus wirkt wie ein goldener Käfig: alles sieht glänzend aus, aber innen wird es eng. Je höher die Ansprüche, desto mehr gerät man unter Stress. Der Feierabend fühlt sich nicht leicht an, sondern wie eine weitere „Aufgabe“ (Selbstoptimierung, Sport, perfektes Familienleben). Es bleibt kaum Raum für spontane Freude.

Gerade Menschen in der Lebensmitte spüren irgendwann:
Ich habe genug geleistet. Aber warum kann ich es nicht genießen?

Zusätzlich leiden Beziehungen:

  • Partnerinnen oder Partner fühlen sich oft vernachlässigt, weil „noch kurz was fertig gemacht werden muss“.
  • Kinder merken: „Mama oder Papa sind zwar da – aber irgendwie doch nicht richtig präsent.“
  • Freundschaften werden seltener gepflegt – weil Zeit und Energie fehlen.

Und dennoch folgt oft am Ende des Tages dieser Satz im Kopf:
„Morgen mach ich’s besser – perfekter.“

Auch körperliche Warnsignale zeigen sich häufig:

  • Schlafstörungen, weil der Kopf nicht abschalten kann.
  • Verspannungen und Kopfschmerzen durch permanente Anspannung.
  • Gereiztheit und Rückzug aus dem sozialen Leben.

Dieser Preis ist hoch – und oft zahlen ihn gerade die, die eigentlich Sehnsucht nach mehr Gelassenheit, Authentizität und Nähe haben.

Wie du dich vom Perfektionismus befreien kannst

Perfektionismus ist kein einfacher „Makel“, den man abschüttelt – sondern meist Ausdruck tieferer Muster: Wer als Kind gelernt hat, dass Liebe, Lob oder Sicherheit nur bei Bestleistung zu haben ist, trägt diese „innere Stimme“ als Erwachsene weiter.

Die gute Nachricht:
Es ist möglich, diesen Kreislauf zu unterbrechen – ohne gleich seine hohen Standards aufzugeben.

Hier vier konkrete Schritte, die dich auf einen neuen Weg führen:

1. Erkenne den Unterschied zwischen Exzellenz und Perfektionismus

Exzellenz bedeutet: Du willst gute Arbeit leisten – aus Freude, aus innerem Antrieb, weil es Sinn macht.
Perfektionismus bedeutet: Du willst Fehler vermeiden, um negative Konsequenzen zu verhindern.

Frage dich bewusst: „Arbeite ich gerade aus Freude – oder aus Angst?“

Das kleine Detail macht den großen Unterschied: Freude gibt Energie. Angst raubt sie.

2. Definiere dein „gut genug“ selbst

Viele sensible Fach- und Führungskräfte folgen inneren Regeln wie „Ich darf nur abgeben, wenn es perfekt ist.“. Das führt dazu, dass 95 % zwar objektiv großartig sind – aber subjektiv nicht reichen.

Versuche einmal, dir eine klare Grenze zu setzen:

  • „Wenn ich den Nutzen für mein Gegenüber sicherstelle, darf es raus.“
  • „Ich bewerte meine Arbeit an ihrem Sinn, nicht an jedem Detail.“

Übung: Frage dich bei jeder Aufgabe: „Wofür ist das gut – und wann ist der Punkt erreicht, an dem es seinen Zweck erfüllt?“

3. Erlaube dir Unvollkommenheit als mutige Geste

Unvollkommenheit zuzulassen ist kein Zeichen von Nachlässigkeit – sondern von Selbstvertrauen.

Manchmal kannst du dir vornehmen, bewusst etwas nicht zu perfektionieren. Zum Beispiel:

  • Einen Text mit kleinen Unebenheiten veröffentlichen.
  • Eine Präsentation mit kleinen Schwächen abgeben und beobachten, wie kaum jemand sie bemerkt.

Diese kleinen Experimente helfen dir, den inneren Druck zu lockern.

4. Verstehe die Wurzeln deines Perfektionismus

Hinter Perfektionismus steckt oft die Sehnsucht nach Anerkennung oder Liebe – nicht die Freude an Qualität.

Nimm dir bewusst Zeit, diesem Muster auf die Spur zu kommen:

  • Wann hast du das erste Mal gelernt, dass „sehr gut“ nicht reicht?
  • Wo in deinem Leben spürst du diese Dynamik besonders?

Hier können Reflexion, Journaling oder Coaching wertvolle Wege sein, diese Geschichte zu beleuchten und Schritt für Schritt zu lösen.

Zusätzliche Reflexionsfragen:

  • Was würde es für dich bedeuten, wenn du deine Arbeit zu 95 % fertigstellen und einfach abschließen würdest?
  • Wann hast du das letzte Mal den Satz gesagt: „Es ist einfach gut so wie es ist“ – und es auch gefühlt?
  • Wem möchtest du heute einfach zuhören – ohne innerlich zu prüfen, ob du gerade „perfekt“ reagierst?
  • Welcher Moment in deinem Alltag fühlt sich bereits frei von Perfektionismus an? Kannst du genau davon mehr kultivieren?

Alltagsszenen zum Wiedererkennen:

  • Du gestaltest ein Geschenk für einen lieben Menschen – und findest dich dabei wieder, stundenlang Farben und Details zu optimieren, anstatt einfach zu schenken.
  • Du planst eine kleine Einladung – und verlierst dich in den Perfektionsdetails des Menüs, statt dich auf die Freude am Zusammensein zu konzentrieren.
  • Du machst Sport, aber jede Trainingseinheit wird zum „Leistungstest“ – obwohl dein Ziel eigentlich Gesundheit und Wohlbefinden war.

Genau hier liegt dein Schlüssel:
Dort, wo Perfektionismus deine Lebensfreude überlagert, darfst du neu wählen.

sei sensibel, sinnreich, souverän
Liebe Grüße, Jens

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